Lateinamerika und das Kino

LISANN PRüSS

Vom 10. bis zum 13. Mai findet das 27. Internationale Bremer Symposium zum Film statt. Es wurde bereits 1995 von den Kooperationspartnern Universität Bremen und City 46 ins Leben gerufen und bereichert Bremen seither mit spannenden Inhalten. Das Thema dieses Jahr: Audiovisualität des Erinnerns, Lateinamerika und das Kino. Christine Rüffert, langjährige Mitorganisatorin des Symposiums, und Delia González de Reufels, Professorin für die Geschichte Lateinamerikas an der Universität Bremen, erzählen im Interview über Anfänge, Hintergründe und Highlights.

Was macht das Internationale Symposium zum Film aus?

Rüffert: Eine Besonderheit ist, dass sowohl Vorträge gehalten als auch die Filme gezeigt werden, über die gesprochen wird. Das ist eine Rarität, weil meistens auf solchen Konferenzen nur Ausschnitte laufen. Dies ist nicht nur für die Wissenschaftler interessant, sondern es gibt auch eine Öffnung in das normale Publikum hinein.
González: Genau, wir möchten auch den Dialog mit den Bremerinnen und Bremern, die ins Kino gehen. Da es eher selten ist, dass Konferenzen in den Kinos selbst stattfinden, trägt dies ganz maßgeblich zur Atmosphäre des Events bei.

Und wie sind Sie auf das Thema für das diesjährige Symposium gekommen?

González: Dazu muss man wissen, dass es in Bremen eine große Tradition des lateinamerikanischen Films gibt und Bremen in den 70er Jahren viele chilenische Aktivistinnen und Aktivisten aufgenommen hat, die das Land nach dem Putsch 1973 verlassen haben. Viele von ihnen und auch ihre Kinder sind noch hier. Ich beschäftige mich mit der Geschichte Chiles im Rahmen meiner Forschungen und der Putsch in Chile jährt sich in diesem Jahr. Es ist an der Zeit zu schauen, was sich in dem Kontinent bewegt hat und was dies filmisch bedeutet.

Rüffert: Ja, und es gab die ganzen Solidaritätsbewegungen. Das kommunale Kino hat sich zum Beispiel von Anfang an für den lateinamerikanischen Film interessiert.

González: Natürlich stellt das Symposium nicht den Anspruch, den gesamten Kontinent und sein Filmschaffen abzudecken. Wir hätten zwar viele Filme, aber wir haben nicht so viel Zeit. Ein Ziel ist, darauf hinzuweisen, dass Lateinamerika auch ein Kontinent des Kinos ist und dadurch, dass wir diese Filme sehen, öffnet sich ein Fenster zur Vielfalt dieses Kontinents. Ein Schwerpunkt des Symposiums liegt auf Argentinien und damit auf einem Land, das früh eigenes Kino gemacht und eine eigene Filmindustrie aufgebaut hat. Ein anderer Schwerpunkt ist Brasilien: ein Kinopionier mit einer großen Tradition und einer bunten Kinolandschaft.

Wie erfolgt die Auswahl der Filme?

Rüffert: Die Filme ergeben sich aus den Vortragsthemen, sie sind sozusagen die Beispielfilme. Da wird auf Themen eingegangen, die heute lateinamerikanische Länder beschäftigen, wie Wassermangel, Versorgung, Widerstand gegen Regierungen oder gegen große Konzerne. Genremäßig gibt es da alles, von Thrillern bis zu Musik-Filmen. Wir zeigen auch einige historische Filme, denn wir nehmen ja oft nur wahr, was im Moment auf dem Markt beworben wird. Es gibt jedoch eine reiche Filmgeschichte und es ist auch die Aufgabe eines kommunalen Kinos, Filmgeschichte lebendig zu halten. Und da sich die Vorträge natürlich auf Entwicklungsstränge beziehen und Vergleiche anstellen, sind auch Filme dabei, die wir immer zu solchen Anlässen ausgraben in irgendwelchen Archiven, die vielleicht überhaupt noch nie jemand seit 40, 50 Jahren gesehen hat.

Können Sie die Tradition und Ästhetik beschreiben, die das lateinamerikanische Kino ausmacht?

González: Es ist ja längst so, dass lateinamerikanische Regisseure große Filme im Herzen der Industrie in Hollywood machen. Sie bedienen sich sehr stilsicher der filmischen und ästhetischen Repertoires, sie haben den Sprung zu den großen Verleihern und auch zu den großen Budgets geschafft. Das heißt, dieses Kino ist nicht länger mehr nur ein lateinamerikanisches. Wir sehen unsere Aufgabe jedoch darin, Filme zu zeigen, die nicht im Mainstream laufen, wie zum Beispiel Filme der Third Cinema Bewegung. Angelehnt ist der Name an den Begriff der Dritten Welt, der zur Zeit der zweigeteilten Welt und ihrer Systemkonkurrenz aufkam. Dieses Third Cinema hat sich auf die Suche nach eigenen Themen und Ästhetiken gemacht. Zudem zeigen wir am Freitag einen brasilianischen Stummfilm, der ein Film der Avantgarde ist und mit Live-Musik begleitet wird. Das dürfte ein Highlight dieses Symposiums sein.

Welche Rolle haben solche Filme für die Geschichte und Kultur eines Landes?

Gonzalez: Vielfach geht es in diesen Filmen darum, Geschichte in ihrer alltäglichen Dimension sichtbar und greifbar zu machen. Gerade in Zeiten der Militärdiktaturen war dies der Fall. Film hat lange auch die Aufgabe übernommen, die Stimmen derjenigen hörbar zu machen, die mundtot gemacht worden waren, ihre Geschichten zu erzählen und ihnen Bilder zu geben. Kino hatte in Lateinamerika vielfach den gesellschaftlichen Auftrag der Aufarbeitung. Nur Wissen und Aufarbeitung kann dann auch zu Aussöhnung führen und einen positiven Weg in die Zukunft eröffnen. Die kubanische Revolution beispielsweise hat sehr früh erkannt, dass das Kino ein ganz mächtiges Medium ist, um die eigenen Leute zu erreichen, aber auch, um im Ausland auf sich aufmerksam zu machen. So wurde ein eigenes Kino-Institut gegründet, und es gab Filmfestivals, an denen auch namenhafte Filmemacher:innen aus Kuba und zum Beispiel aus afrikanischen Ländern mitgewirkt haben, oder Künstler teilgenommen haben. Der Schriftsteller Gabriel García Márquez hat sich zum Beispiel dort engagiert. Man muss zudem bedenken, dass diese Filme auch immer Geschichtsdeutungen vorlegen. Das finde ich als Historikerin sehr interessant, finde es aber durchaus auch problematisch, denn diese Deutungen sind sehr wirkmächtig und vielschichtig. Man hat nicht nur das Bild, es gibt auch den Ton, die Musik, die Dialoge, den Schnitt. Aber der Zuschauer hat den Eindruck, er/sie sei dabei gewesen! Wir müssen uns daran erinnern, dass es gezielte Inszenierungen sind.

Frau Rüffert, Sie organisieren das Symposium schon seit 1995: Was hat sich dabei über die Zeit verändert und in welche Richtung könnte es weitergehen?

Rüffert: Ich denke, dass die Themen sich mehr auf Gesellschaft fokussieren und weniger cineastisch und selbstreferenziell sind, als sie es am Anfang waren. So wie die Gesellschaft im Moment aufgestellt ist und was wir dadurch für Themen haben, ist dieses rein Cineastische nicht aufrechtzuerhalten. Das Symposium hat sich über die Jahre dahin entwickelt, andere Fragen zu stellen, wie zum Beispiel im vorletzten Jahr die Darstellung von psychischen Erkrankungen im Film, ein extrem gesellschaftspolitisches Thema. Der Film hat so einen großen Einfluss auf uns alle. Alle Bewegtbilder, nicht nur die, die wir im Kino sehen, sondern auch im Internet. Wir sind es so gewohnt, damit umzugehen, ohne sie zu hinterfragen. Aber sie prägen uns natürlich, und ich denke es ist wichtig, Distanz herzustellen und die Bilder und die Bildsprache zu hinterfragen.

Was sollen die Menschen von dem Event mit nach Hause nehmen?

González: Zum einen würde ich mir wünschen, dass sie sich anstecken lassen von der Begeisterung für Kino und besonders für Filme jenseits des ›Hollywood-Netflix-Mainstream‹. Ein Kino also, das sich auch Zeit nimmt, um unbequeme Geschichten zu erzählen. Und auch, dass dies erkannt wird als eine Möglichkeit, Anteil zu nehmen an Entwicklungen jenseits von Bremen und Deutschland. Ich fände es wunderbar, wenn jemand lateinamerikanisches Kino für sich entdeckte und mehr für die Filme interessieren und diese anschauen würde.

Rüffert: Ich wünsche ich mir, dass viel mehr Vielfalt präsent ist, damit die Zuschauerschaft nicht nur konformistisch zugeschnittene Häppchen konsumiert. Dass sie mit der Vielfalt an Möglichkeiten konfrontiert ist, und auch lernt, diese wertzuschätzen.

González: Ich finde den von Christine Rüffert verwendeten Begriff des Konformistischen sehr passend., dieses Erwartbare. Man sollte bereit sein, auch etwas auf sich wirken zu lassen, was man nicht erwartet hätte und sich dem auszusetzen.

Rüffert: Also wünschen wir uns ein freudig überraschtes Publikum!

Der Film hat so einen großen Einfluss auf uns alle. Alle Bewegtbilder, nicht nur die, die wir im Kino sehen, sondern auch im Internet.
Christine Rüffert