Herr Müller, wie würden Sie den aktuellen Stand im Land Bremen beschreiben?
Lars Müller: Wir haben barrierefreie Spielplätze, wir beteiligen uns an Reisen für alle. Wir sind schon gut aufgestellt, nichtsdestotrotz, die Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung hat das zuletzt richtig gesagt: ›Wir haben schon viel erreicht, aber noch viel mehr vor.‹ Die ganzen Hochparterre-Wohnungen beispielsweise, die es in Bremen gibt, sind alles andere als barrierefrei. Wenn man so überlegt, wie viele es davon gibt, will ich Bremen am liebsten abreißen und neu bauen. Auch in Bremerhaven gibt es alte Gebäude, die im Krieg nicht zerstört wurden und die nicht barrierefrei sind. Auch ist der Lebensradius außerhalb der Wohnung oft eingeschränkt, weil die ganzen Straßen nicht barrierefrei sind. Da sind Pflastersteine, Bordsteine, da komme ich gar nicht durch als Rollstuhlfahrer:in. Die Menschen können sich ihren Wohnort momentan nicht selbst aussuchen, sondern sind beschränkt auf einzelne Gebiete. Und in vielen öffentlichen Gebäuden sind die Toiletten für Menschen mit Behinderung und die Toiletten für Menschen ohne Behinderung voneinander getrennt. Diese räumliche Trennung schafft auch eine soziale Trennung. Wie gesagt, wir sind auf dem Weg, aber es gibt noch viele Baustellen. Egal, wo Menschen aus unserer Bevölkerung teilnehmen wollen, die Teilnahme muss selbstverständlich werden! Da sind wir allerdings noch lange nicht.
Was bewegt Sie noch an Ihrem Job, nach über zehn Jahren?
Müller: Früher war mein Plan, viel Geld zu verdienen. Dann bin ich ins Soziale gekommen und wollte mich für Menschen mit Behinderung einsetzen. Dienst am Menschen ist das, was mich letztendlich erfüllt. Es gibt ein simples Beispiel: Bei uns am Strand gibt es eine schöne Holzterrasse mit Blick auf die Wesermündung und die Nordsee, aber die war für Menschen mit Rollstuhl nicht begehbar. Daraufhin haben wir dort eine Rampe initiiert und wenn ich jetzt dort sitze, sind da Rollstuhlfahrer:innen aber auch Menschen mit Kindern und Kinderwagen, die ihr Getränk und die Aussicht genießen. Das bewegt mich.
Sie haben gesagt, dass Behinderung total umfangreich sein kann. Wie schaffen Sie es, alles zu berücksichtigen und wo treten Schwierigkeiten auf?
Müller: Bei Rollstuhlfahrer:innen sieht man das Problem. Aber auch die taktile und kontrastreiche Gestaltung von Innenräumen ist notwendig, oder, dass man für sehbehinderte Menschen einen Zugang schafft über farbliche Kontraste. Ganz interessant sind zum Beispiel auch die taktilen Leitstreifen oder -Punkte an Fußgänger:innenübergängen. Das wird flächendeckend in Bremen und Bremerhaven gemacht, aber es gibt einen Nachteil: Für Rollstuhlfahr:innen sollte der Gehweg möglichst erschütterungsarm sein. Wenn wir nun beim Übergang von Fußweg auf Straße diese 3 cm hohen Streifen oder Punkte haben, ergibt das im Rollstuhl schon eine Erschütterung. Der Mensch mit Sehbehinderung braucht das aber, damit er spürt, dass dort eine Straße ist. Das ist das Dilemma. Akustik ist ein ganz wichtiges Thema, nicht nur für hörgeschädigte Menschen, auch Menschen mit Kopfhörern, zum Beispiel in der Bibliothek oder im Büro bei Meetings, können keinen Alarm hören. Daher ist ein optischer Alarm notwendig. Auch psychische Behinderungen müssen beachtet werden, gerade weil diese nicht immer sichtbar sind. Man sieht, das Behinderungsspektrum ist dermaßen groß, da muss einiges berücksichtigt werden. Und wie am Beispiel beschrieben sieht man aber, dass manche Arten von Behinderungen auch miteinander konkurrieren. Ich weiß, dass viele Menschen mit dem Thema gar keine Berührungspunkte haben, deswegen ist sehr viel Bewusstseinsbildung und sehr viel Aufklärungsarbeit wichtig. Das passiert aber leider viel zu wenig.
Spielt Geld bei barrierefreiem Bauen eine Rolle?
Müller: Bei Neubauten kann das Finanzielle kein Argument mehr sein. Es gibt eine Schweizer Studie, die das barrierefreie Bauen bemessen hat. Die haben rausgefunden, dass es um drei Prozent teurer wird. Allerdings muss man wissen, dass von diesen drei Prozent Mehrkosten 100 Prozent der Nutzer:innen des Gebäudes profitieren. Barrierefreiheit ist nicht etwas Schädliches oder mehr Aufwand. Sie kann für alle, nicht nur für Menschen mit Behinderung, nützlich sein. Auch Personen mit Kindern oder Senior:innen profitieren von Rampen, Türen, die sich von selbst öffnen, oder optischen Signalen bei Alarm. Wenn ich barrierefrei baue, denke ich an alle Menschen. Die Message muss klar werden.
Wenn Sie die Situation heute mit der von vor 20 Jahren vergleichen, sehen Sie eine Veränderung?
Müller: Ja, das auf jeden Fall. Da ist schon ein guter Fortschritt sichtbar. Bei öffentlichen Gebäuden müssen wir mit einbezogen werden, aber auch bei privaten Bauten fragen immer mehr Architekt:innen nach, worauf sie denn achten können. Wenn wir es aber historisch betrachten – erst 1994 wurde das Grundgesetz geändert, so dass Menschen mit Behinderung nicht mehr benachteiligt werden dürfen.
Sind die Architekt:innen von Ihnen abhängig bei Neubauten?
Müller: Jein. Bei privaten Hausbauten kann der Staat nicht immer eingreifen. Die Landesbauordnung sieht aber vor, dass bei Mehrfamilienhäusern das Amt für Menschen mit Behinderung auf jeden Fall mitreden muss. Ohne unsere Stellungnahme gibt es keine Baugenehmigung. Schade finde ich, dass im Architektur-Studium das barrierefreie Bauen kein Pflichtfach ist. Ich denke, dass barrierefreies Bauen selbstverständlich sein sollte.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Müller: Noch mehr Bewusstseinsbildung und mehr Offenheit. Ich wünsche mir, dass auch die Barrieren in den Köpfen abgebaut werden. Ich vergleiche das immer gerne mit folgender Geschichte. Meine Frau war mal auf einer TupperwareALLE MENSCHEN Party und brachte eine Dose in Form einer Banane mit. Und dann sagte sie zu mir, dass sie diese Dose unbedingt kaufen musste und die ihren Alltag so viel besser machen wird. Und so sollte mit der Barrierefreiheit umgegangen werden. Ich möchte, dass Bauherr:innen, Architekt:innen oder andere Personen, mit denen ich über das Thema spreche, mit genau demselben Gefühl aus dem Gespräch herausgehen – dass ihnen etwas fehlt, wenn sie barrierefreies Bauen nicht berücksichtigen. Diese Selbstverständlichkeit wünsche ich mir.
Wie gesagt, wir sind auf dem Weg, aber es gibt noch viele Baustellen. Egal, wo Menschen aus unserer Bevölkerung teilnehmen wollen, die Teilnahme muss selbstverständlich werden!